Skip to content Skip to footer

Medusas Spiegelbild

Schon immer war Sarah begeistert von Schlangen. Deshalb standen auch mehrere Terrarien mit diesen Kriechtieren in ihrer Wohnung. Besonders stolz war sie auf eine ihrer Lieblinge, eine schwarze Mamba.

Ihr langer, schlanker Körper. Ihre elegante Fortbewegung. Ihre Schnelligkeit, wenn sie angriff. Ihre Gefährlichkeit faszinierten sie.

Im Moment starrten sich beide an, nur getrennt durch eine Glasscheibe. Das Tier hatte sich etwas aufgerichtet und es sah aus, als hätten die beiden einen stummen Dialog miteinander.

Dann wandte die Frau sich dem alten Buch zu, das sie in den Händen hielt. Vor Monaten hatte sie es auf einem Trödelmarkt entdeckt und gekauft. Wie oft schon hatte sie es aufgeschlagen und wie oft schon den gleichen, kurzen Artikel gelesen, der sie so fesselte? Er war teilweise holprig und altmodisch geschrieben.

Wenn du nimmst einen kleinen Löffel voll von diesem Rezepte und ihn auflösest in einen Becher kalten Wassers und dieses trinkst, so wirst du nicht getötet vom Gifte der Schlange. Dein Leib unten aber wird werden zu dem Körper dieses Tieres. Auf deinem Kopfe werden wachsen viele kleine Körper dieses Ungeziefers. Blickt dir aber jemand in die Augen, so wird er erstarren zu kaltem Steine!

Unter diesem Text stand die Rezeptur dieses magischen Trankes. Sarah hatte lange gebraucht, bis sie alle Ingredienzen zusammen hatte. Wochenlang hatte sie diesen Augenblick immer wieder verschoben. Aber jetzt wollte sie nicht mehr warten.

Wieder starre sie der Schlange in die Augen.

„Heute wird es passieren“, wisperte sie. In ihren Augen irrlichterte es. Der Wahnsinn hatte sich in ihrem Kopf eingenistet. Die Mamba drehte ein wenig den Kopf zur Seite und es sah aus, als verstünde sie die Worte ihrer Herrin.

Sarahs Blick glitt zu dem kleinen Tisch. Dort stand ein Wasserglas, daneben ein kleines Döschen, in dem sich das Pulver befand. Die Frau nahm das Glas und kippte das Pulver hinein. Mit einem Löffel rührte sie es sorgfältig auf.

Sie atmete noch einmal schwer durch, dann setzte sie das Glas an den Mund und trank es in großen Schlucken bis auf den letzten Tropfen aus. Sarah stellte das Glas auf den Tisch zurück und öffnete den Deckel des Terrariums. Zitternd streckte sie ihre Hand hinein. Die Schlange wich erst einen Moment irritiert zurück, dann schnellte ihr Kopf blitzschnell nach vorn. Ihre kleinen, spitzen Zähne hackten in die Hand der Frau und verspritzten ihr Gift.

Sarah verzog schmerzhaft das Gesicht und zog die Hand zurück. Sie blickte auf die beiden Bisswunden und im selben Moment raste ein feuriger Schmerz durch ihre Hand. Er jagte den Arm hinauf, breitete sich in ihrem Körper aus und erfasste schließlich ihren Kopf. Schüttelfrost ließ ihren Körper erzittern Plötzlich schienen hunderte von kleinen Nadeln auf ihr Gehirn einzustechen. Stöhnend presste sie beide Hände an ihre Schläfen, während sie in die Knie ging. Die Welt um sie herum schien sich zu drehen, erst bunt und immer dunkler werdend. Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Bewusstlos sank sie zu Boden.

Irgendwann erwachte sie auf dem Boden. Sarah fühlte sich wie durch den Wolf gedreht. Stöhnend richtete sie sich auf. Sie wollte ihre Knie anziehn, doch das ging nicht.

WARUM NICHT!

Zögernd blickte sie nach unten. Sie hatte keine Knie, keine Beine mehr.

IHR LEIB UNTERHALB DES NABELS HATTE SICH IN DEN SCHWARZEN; BLAU SCHIMMERNDEN LEIB EINER SCHLANGE VERWANDELT!

Auf dem Kopf spürte sie ein unruhiges Gewimmel. Ihre Rechte griff nach oben. Sie fühlte eine Menge kleiner, wurmartiger Wesen.

SCHLANGEN!

Sie riss den Mund auf und ein langgezogenes Zischen war zu hören. Sie musste sehen, was mit ihr geschehen war. Mit ihrem Schlangenkörper kroch sie zu dem Spiegel. Sie blickte auf eine hässliche Gestalt, halb Mensch, halb Schlange. Sarah sah ihren Kopf, auf dem dutzende von kleinen Schlangen wimmelten. Sah die spitzen Eckzähne in ihrem weit aufgerissenen Maul.

SIE WAR ZU EINER MEDUSA GEWORDEN!

Und sie sah die Augen, die plötzlich weiß zu glühen schienen.

Da durchraste sie das Entsetzen! Ein bestimmter Satz peitschte in ihrem Gehirn:

Blickt dir aber jemand in die Augen, so wird er erstarren zu kaltem Steine!

Zischend wollte sie sich zurück bewegen, aber es war schon zu spät. Schon spürte sie, wie sich die Kälte in ihrem Körper ausbreitete. Spürte, wie das Leben aus ihrem Körper wich. Spürte, wie ihr Körper hart wurde.

Der Blick in die Augen ihres eigenen Spiegelbildes hatten sie zu Stein erstarren lassen.

 

ENDE

 

Paul Hartmann