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Des Windes Todeslied

Der Baron schleppte sich, beinahe torkelnd, als wäre er betrunken, den Hang hinauf. Er zitterte am ganzen Körper. Sein schweißnasses, aschfahles Gesicht war verzerrt. Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich die vom Wind zerzausten Haare aus dem Gesicht. Hinter ihm warf das Meer wütend seine Wellen gegen die Klippen, das die weiße Gischt meterhoch aufspritzte, als wolle es ihm seine Abscheu ob der schlimmen Tat hinterher schleudern.

Das hatte er nicht gewollt. Nein, verdammt, das hatte er nicht gewollt. Wie schon sehr oft hatte er sich wieder einmal heftig mit der Baronin gestritten. Sie hatte voller Wut auf ihn eingeschlagen. Er stieß sie zurück, sie stolperte, fiel und knallte mit dem Kopf gegen den schweren Eichentisch.

Noch jetzt hatte er das hässliche Knacken in den Ohren, als ihr Genick brach.

Er  ging langsam zurück zu seiner Villa. Dort wollte er einen Abschiedsbrief schreiben. Und niemand würde bezweifeln, dass ihn seine Frau endgültig und für immer verlassen hatte. Jeder der seine Eheverhältnisse kannte wusste, dass diese längst zerrüttet und nicht mehr zu retten war.

Viel Zeit war ins Land gegangen. Der Baron hatte eine neue Lebensgefährtin, aber trotzdem konnte er das Geschehene nicht vergessen. Wie eingebrannt war es in seinem Schädel. Immer wieder blickte er von dem großen Terassenfenster hinunter auf die Klippen, wo nach wie vor das Meer seine Gischt wütend gegen die Felsen klatschte, als wolle es ihm seine Verachtung einhämmern.

So auch heute. Doch plötzlich verfinsterte sich sein Gesicht. Ein unterdrückter Fluch kam über seine Lippen. Was machte denn Helen da unten? Schnell lief er hinaus und den mit Gras bewachsenen Hang hinunter. Dort stand, nahe an den Klippen seine Gefährtin. Still, als würde sie sich auf etwas konzentrieren.

„Helen, verdammt, was machst du da unten? Ich will nicht, dass du diesen Ort aufsuchst. Es ist gefährlich bei den Klippen.“ rief er wütend.

Sie blickte ihm mit ernstem Gesicht entgegen. „Mir ist der Picknickkorb hinuntergerollt und ich wollte ihn wieder holen.“

Erst jetzt bemerkte er den Korb und die Esswaren, die verstreut am Boden lagen. Er atmete tief durch.

„Schon gut. Wir sammeln es ein und gehen wieder nach oben.“ Er wollte sich nach dem Korb bücken.

„Warte!“ sagte Helen bestimmt.

Er hielt inne. „Was ist denn?“

„Ich hab…so ein unheimliches Geräusch gehört. Als würde jemand vor Schmerzen stöhnen.“

Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Sofort brachte er es in Zusammenhang mit seiner getöteten Frau. Aber das war doch nicht möglich.

Wind kam auf und spielte mit seinen Haaren.

„AAAAAAAHHHHHHHHHHH…“

„Da ist es wieder, Arthur, aber was ist das?“ fragte sie beklommen. „Arthur…Arthur, was ist denn mit dir? Du bist ja leichenblass.“

Erschreckt schaute sie den Mann an, der wie erstarrt neben ihr stand. Erste Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Verzweifelt schüttelte er den Kopf.

„Sie…ist wieder da…sie ist wieder da.“ hauchte er.

„Wovon redest du, verdammt!“

„HHHHHHHHHHIIIIIAAAAAA…!“

Der Baron verzerrte gepeinigt das Gesicht und presste die Fäuste an die Schläfen.

„Aber sie ist doch tot…tot!“ Seine Stimme wurde schrill.

„HHHHHHHHHIIIIIIIIIII…!“

Helen zuckte erschrocken zusammen, als er plötzlich wie von Sinnen losschrie:

„DU WILLST DICH RÄCHEN, DU ELENDES MONSTER!  WILLST MICH ZERSTÖREN! GEH WEG…WEG…!“

Die Frau ging entsetzt ein paar Schritte zurück. Zum ersten Mal hatte sie Angst vor diesem Mann. Er war ein anderer geworden. Ein Fremder, in  dessen Augen der Wahnsinn irrlichterte.

„AAAAAAAAHHHHHHH…!“

Wieder schrie er mit schriller Stimme:

„DU LÄSST MICH NICHT IN RUHE, NICHT WAHR? DANN ZERSTÖRE MEIN LEBEN, DU SCHEUSAL…MACH ALLES KAPUTT…!“

„HHHHHHHHHIIIIIAAAAAA…!“

„ICH KOMME. ICH BEFREIE DICH AUS DEINEM STEINERNEN GRAB. ICH KOMME…KOMME…!“

Wie von Furien gehetzt arbeitete er sich über die Klippen. Dabei rutschte er aus, fiel ins Meer und rappelte sich wieder auf. Wie Putzlappen hing sein teurer Maßanzug an seinem Körper. Er watete auf eine bestimmte Stelle zu. Wütend peitschte das Meerwasser an ihm hoch, als wolle es ihn in die Tiefe ziehen. Er spürte es nicht.

Wütend schob und hob er Stein für Stein weg, während er weite mit überschnappender Stimme brüllte:

„SO KOMM HERAUS AUS DEINEM STEINERNEN GRAB…KOMM HERAUS…!“

„ARTHUR…!!!“ schrie Helen verzweifelt, „ARTHUR…!!!“

Da kam er wieder zu sich. Schwer atmend hielt er inne. Unglücklich blickte er seine Lebensgefährtin an. Dann stieg er langsam aus dem Wasser. Schwankend ging er an ihr vorbei. Er brachte es nicht fertig, ihr in die Augen zu sehen.

„HHHHHHHHAAAAAAAAAAA…“!

Ein Schauer jagte über Helens Rücken. Sie wäre am liebsten fort gerannt. Aber sie konnte nicht. Stattdessen näherte sie sich der bewussten Stelle. Das Grauen griff nach ihr mit eiskalten Fingern, als sie halb im Wasser liegend die sterblichen Überreste der Baronin sah.

Wieder kam Wind auf und strich durch die Öffnungen des Totenschädels. Durch die Augenhöhlen, den weit aufgerissenen Mund und erzeugte dabei unheimliche und schauerliche Laute.

Der Wind sang sein Todeslied!

 

ENDE

 

Paul Hartmann