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Europaparlament ohne Hürde: Was Berlin von Kitzingen lernen kann

Das Verfassungsgericht kippt die vom Bundestag in Berlinbeschlossene Drei-Prozent-Hürde für das Europaparlament. „Endlich!“ sagen insbesondere die Anhänger kleinerer Parteien, die immerzu befürchten mussten, an dieser Hürde zu scheitern. Und gleichzeitig schreiben Massenmedien den Untergang des Abendlandes herbei, wie zum Beispiel in der Bild „Kann jetzt jeder Spinner ins Europa-Parlament?“ oder die Süddeutsche, die sich fragt, ob das Europaparlament zum „Rummelplatz“ wird.

Was neben dem ganzen Rummel um die Drei-Prozent-Hürde aber vergessen wird, ist oft der Blick vor die eigene Haustür: Gerade Kitzingen mit seinem Stadtrat ist ein gutes Beispiel, dass auch mit vielen verschiedenen Parteien nicht „jeder Spinner“ in den erwarteten „Rummelplatz“ reinkommt und es auch mit vielen Parteien letztendlich gar kein Rummelplatz zu befürchten ist. Im Kitzinger Stadtrat sitzen derzeit SPD, USW, UKP, ödp, KIK, Freie Wähler, CSU und proKT, also 8 Fraktionen. Zwar gibt es beim Stadtrat immer noch die Hürde, dass die Listen eine gewisse Menge an UnterstützerInnen dazu bewegen müssen, sich im Rathaus selbst in eine der Unterstützerlisten eintragen zu lassen. Aber auch das hat weder den unabhängigen OB-Kandidaten Oertel noch die Bayernpartei daran gehindert, ihre Liste zu platzieren. Dass die Bayernpartei aber mehr als einen Rat stellen wird, dürfte bei der vorherrschenden Ablehnung von bajuvarisch-royalem Gedankengut mit fränkischem Anstrich als gesichert gelten. Dass man im Rat mit nur einer Person kaum mehr etwas zu melden hat, zeigt beispielsweise proKT mit dem Stadtrat Böhm.

Über einen ähnlichen „Regelmechanismus“ dürften auch die befürchteten „Spinner“ – sofern sie gescheit genug sind, eine Liste aufzustellen und frist- sowie formgerecht einzureichen – im Europaparlament von der tatsächlichen Politik ausgeschlossen bleiben: Sie werden eine marginale Randgruppe darstellen. Nicht zur Arbeitsteilung wie in Fraktionen imstande, werden sie sich nie intensiv mit einem Thema befassen können und somit keine oder kaum eine politische Wirkung haben. Das einzige, was sie ausrichten können, ist, kleinere Impulse zu geben. Oder die Einzelabgeordneten schließen sich einer der großen Fraktionen an, womit alle „rumspinnerei“ aber der nüchternen Sach- und Lagerpolitik wieder weichen muss. Angst sollte man daher vor der Abschaffung der Drei-Prozent-Hürde im Europaparlament nicht haben, findet auch das Bundesverfassungsgericht. Zumal bereits über 160 Parteien im Parlament vertreten sind und sich in mehrere große Fraktionen zusammenschließen. Die Abschaffung der Drei-Prozent-Hürde kann man auch als Chance bereifen, da man annehmen kann, dass Spinner wie Nicht-Spinner von dieser Hürde benachteiligt werden.

Nur für die großen Volksparteien ist diese Entscheidung ärgerlich: Ihr Aufstellen von Listen mit langgedienten Parteigängern und Polittaktikern kann so jetzt einfach umgangen werden. Dadurch ist es durchaus möglich, dass das Europaparlament in Zukunft wieder weniger von zahlenmäßigen Mehrheiten und Parteien regiert wird – sondern viel mehr von Diskurs, Ideen und Lösungen. Für jeden, der sich ein demokratisches Europa wünscht, letztendlich ein gutes Urteil aus Karlsruhe.