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Trauergäste

Stumm standen die schwarz gekleideten Angehörigen der Verblichenen hinter dem langen Tisch. Ein  schwarzer Tischläufer lag darauf. Auf ihm hatte man ein weißes Liliengesteck gelegt, was das Ganze etwas aufhellte, aber doch an den Tod erinnerte. Daneben ein Stößchen Sterbebilder.

Viele Menschen waren zur Beerdigung gekommen. Die meisten aus Neugierte, wie er sich verhalten würde. War es doch ein offenes Geheimnis, das der Witwer Johannes von Reitersbronn seine Gemahlin in die psychiatrische Klinik gebracht hatte. Dass er sie für unzurechnungsfähig hatte erklären lassen, dass er nun als ihr Vormund ihr Vermögen verwaltete. Und eins und eins konnte jeder hier zusammen zählen.

Manch ein verächtlicher Blick traf den Adeligen und die Trauergäste zögerten, diesem Mann zu kondolieren, bis schließlich der langsam ungeduldig werdende Geistliche sich laut räusperte und einigen Trauergästen auffordernde Blicke zuwarf.

Eine Frau löste sich aus der Menge, ging auf den Witwer zu und streckte ihm ihre Hand entgegen.

„Mein herzliches Beileid.“

Johannes von Reitersbronn wusste, was man hier von ihm hielt und vermied den Blickkontakt. Starr schaute er nach unten.

„Danke.“

Ein Mann kam.

„Mein Beileid.“

„Danke sehr.“

Wieder kam eine Frau.

„Hallo Johannes!“

Dumpf und tonlos klang die Stimme. Von weit her kommend und doch klar mit einem seltsam klingenden Widerhall.

Der Witwer hatte das Gefühl, als würde jemand mit eiskalten Fingern über seinen Rücken streichen. Langsam hob er den Kopf und blickte in zwei trübe, tote Augen. Er blickte in das bleiche Gesicht der Frau. In ein Gesicht, das er sehr wohl kannte.

Dem Gesicht seiner verstorbenen Frau.

Der Frau, die im Sarg lag und in Kürze hinabgelassen werden sollte in die finstere, feuchte Grube. Das Entsetzen peitschte in ihm hoch und er zog instinktiv seine Hand zurück. Irritiert blickte ihn die Frau an. Von Reitersbronn sah wieder in deren normales Gesicht.

„Hab‘ ich etwas Falsches gesagt?“

Der Adlige musste sich erst die Kehle frei räuspern. Rau kam seine Antwort über die bebenden Lippen:

„Nein, nein…nein. Es ist alles…in Ordnung.“

Er spürte erstaunte Blicke von den neben ihm stehenden Anverwandten. Und auch von den Trauergästen. Tief ausatmend senkte er wieder den Kopf. Er versuchte zu verdrängen, was ihm seine überreizte Phantasie vorgegaukelt hatte.

Wieder kam ein Mann.

„Mein Beileid.“

„Danke“.

Als nächstes streckte ihm eine Frau ihre Rechte entgegen. Als er sie ergriff, spürte er sofort die eisige Kälte.

Todeskälte!

Das Herz des Adligen raste. Das Grauen schnürte ihm fast die Kehle zu, denn er sah wieder in diese toten Augen, in dieses bleiche Gesicht. Und wieder begann die Unheimliche mit ihrer tonlosen, dumpfen, fast lallenden Stimme zu sprechen:

„Weißt du noch, Johannes, als wir uns kennenlernten? Wir wollten immer zusammen sein. Das wird jetzt geschehn. Ich werde immer bei dir sein. Jeder, den du ansiehst, wird mein Gesicht haben. Wenn du in den Spiegel schaust, werde ich dir entgegenblicken. Immer bei dir!“

„NEEIIIN…!“ schrie er verzweifelt auf und stieß die Frau brutal zurück. Sie stolperte nach hinten und stürzte. Aber ihr Gesicht verwandelte sich nicht zurück wie beim ersten Mal. Noch immer schaute ihn seine verstorbene Frau an mit ihren drüben, toten Augen. Er vermochte diesen Blick nicht mehr Stand zu halten und schlug bebend die Hände vors Gesicht.

„Sieh mich an!“ keifte eine Stimme, die keinen Widerstand duldete. Und er konnte nicht anders, nahm die Handflächen vom Gesicht. Hass strömte ihm entgegen. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, dass auch die neben ihm stehenden Anverwandten ihm ihr Gesicht zuwandten. Unwillkürlich drehte er den Kopf. Nun griff der Wahnsinn mit all seiner Macht nach ihm, denn ausnahmslos alle, auch die anderen Trauergäste; hatten das totenbleiche Gesicht der Verstorbenen. Dutzende von toten Augen starrten ihn an.

„NEIN…NEEEEEIIIIIIIIIIN…!“ Wieder schlug er die Hände vor sein Gesicht, während er immer wieder verzweifelt aufbrüllte. Schrill und hoch klang sein Geschrei. Das Geschrei eines Verrückten. Und wieder erklang die Aufforderung, diesmal neben ihm:

„Sieh mich an.“ Und die Nächste schloss sich an:

„Sieh mich an.“ Und die Nächste…Nächste…Nächste…! Auch die anderen Trauergäste:

„Sieh mich an.“ „Sieh mich an.“

Immer mehr reihten sich ein in den grausamen Chor.

Johannes von Reitersbronn presste seine Hände gegen die Ohren, während er in wilder Panik den Kopf hin und her warf. Sein Gesicht war verzerrt, vom Grauen gezeichnet. Aber er konnte den furchtbaren Todeschor nicht unterdrücken. Die Stimmen waren nicht nur in seinen Ohren, sie waren überall in ihm. Und immer, immer wieder:

„Sieh mich an.“ „Sieh mich an.“ „Sieh mich an.“ „Sieh mich an.“ „Sieh mich an.“

„AAAAAAAHHHHHHHHHH………..!!!!!!!!!“

„Sieh mich an.“ „Sieh mich an.“ „Sieh mich an.“ „Sieh mich an.“ „Sieh mich an.“ „Sieh mich an.“

Der Witwer hielt es nicht mehr aus. Wie ein gehetztes Tier rannte er, immer wieder schrille Schreie ausstoßend, in wilder Verzweiflung davon.

Missbilligend hob der Professor und Leiter der psychiatrischen Klinik den Kopf, als die Tür aufgestoßen wurde und ein weißgekleideter Pfleger hereinstürmte. Sein Gesicht war aschfahl.

„Was ist denn?“ fragte der Professor schlecht gelaunt. Er mochte es nicht, wenn jemand unangemeldet und ohne anzuklopfen eintrat. Schon gar nicht, wenn er über seiner Fachlektüre saß.

„Der Patient…von Reitersbronn…!“ keuchte der Pfleger schwer atmend.

„Was ist mit ihm?“

„Er hat sich in seinem Zimmer erhängt!“

ENDE

Paul Hartmann