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Mutterliebe

Über 200 Jahre ist es wohl schon her, als sich auf dem Dettelbacher Friedhof etwas sehr seltsames ereignet hatte.

Der Himmel war grau und wolkenverhangen an diesem Tag, als wollte er sich der Stimmung der Beerdigung anpassen.

Johannas Herz war schwer, denn sie musste ihre geliebte Mutter zu Grabe tragen. Ständig rollten schwere Tränen über ihre bleichen Wangen. All die schwarzgekleideten Menschen wirkten störend auf sie.

Immer wieder warf sie einen verstohlenen Blick auf ihren Stiefvater. Sie hasste ihn für seine gespielte Trauer. Ebenso das Dienstmädchen an seiner Seite, denn sie war es, die sich zwischen ihn und ihrer Mutter gedrängt hatte. Wegen ihr war ihre Mutter totunglücklich gewesen. Ihr Gesicht konnte sie nicht sehn, da es von einem schwarzen Schleier verdeckt wurde. Aber sie ahnte dahinter ihr kaltes Grinsen.

Dann war es soweit!

Die Sargträger ließen den Sarg mit den Seilen hinuntergleiten in die feuchte, finstere Grube.

Johanna konnte sich nicht mehr beherrschen. Herzzerreißendes Schluchzen drang aus ihrem Mund. Sie kniete auf die Steinumfassung und streckte ihre Rechte in die Grube, als wolle sie ihre Mutter wieder aus dem Sarg holen.

Eine Hand riss sie brutal zurück. Die Hand ihres Stiefvaters.

„Reiß dich zusammen!“ fauchte er.

„Lass mich.“ Mit einer energischen Armbewegung schüttelte sie ihn ab. Weinend lief sie zu der in der Nähe stehenden Bank und setzte sich. Sie kümmerte sich nicht um die teilweise mitleidigen Blicke. Sie wollte allein sein mit ihrem Schmerz.

Und dann geschah etwas, das ihr den Atem stocken ließ:

Aus der Grube stieg etwas Helles auf, wie Nebel fast. Aber es war kein Nebel.

Es war eine Gestalt. Hell und durchscheinend.

Die Gestalt ihrer Mutter!

Langsam schwebte sie nach oben. Die anderen Trauergäste schienen sie nicht zu bemerken, denn sie reagierten nicht. Blumen um Blumen wurden in das Grab geworfen. War Johanna die einzige, die sie sehen konnte?

Sie verspürte seltsamerweise keine Furcht, als der Geist ihrer Mutter langsam näher kam. Lächelnd stand sie vor ihr. Dann setzte sie sich neben ihrer Tochter auf die Bank. Sie nahm Johannas Hand in die Ihre. Das Mädchen erschauderte deswegen nicht etwa, denn die Hand ihrer Mutter fühlte sich nicht kalt an, sondern warm und zärtlich, so wie sie es immer gewohnt war.

„Mein liebes Kind“, die Stimme schien von weit her zu kommen, dennoch verstand Johanna jedes Wort, „dein Stiefvater und seine Geliebte sind schuld an meinem Tod. Aber sie werden ihre Strafe bekommen.

Nur eines musst du mir versprechen. Steige nachher nicht in die Kutsche ein in der dein Stiefvater mitfährt. Willst du mir das versprechen?“

„Ich verspreche es, Mutter.“ hauchte das Mädchen.

Die durchscheinende Gestalt ihrer Mutter nickte zufrieden. Dann erhob sie ihre Hand und tätschelte die Wangen ihrer Tochter. Erst zärtlich, dann fester und fester, bis es schließlich sogar wehtat.

Johanna erwachte wie aus einem Traum. Der Geist ihrer Mutter war verschwunden. Stattdessen sah sie das Gesicht ihres Stiefvaters vor sich.

„He, sag mal, was ist denn mit dir los?“

„Lass mich!“ fauchte sie ihn an.

„Komm mit zur Kutsche. Wir wollen zu dem Gasthaus zum Leichenschmaus fahren.“

Da erinnerte sie sich an die Worte ihrer Mutter:

„Steige nachher nicht in die Kutsche ein!“

„Steige nachher nicht in die Kutsche ein!“ hämmerte es in ihrem Kopf.

„Ich fahre nicht mit!“ sagte sie abweisend.

„Was heißt das, du fährst nicht mit?“

„Das heißt, dass ich nicht mitfahre. Ich komme später nach.“

„Komm, laß das kleine Zicklein, “ Sagte das Dienstmädchen höhnisch, „wir fahren.“

Ihr Stiefvater nickte und warf ihr noch einen verächtlichen Blick zu. Dann gingen sie.

Johanna aber blieb alleine auf der Bank sitzen und versank in bleiernes Nachdenken. Wie lange sie so gesessen hatte wusste sie nicht, als sie plötzlich eilige Schritte hinter sich hörte. Einer der Nachbarn kam gelaufen, aschfahl im Gesicht.

„Oh Fräulein Johanna, etwas Schreckliches ist geschehn. Nimmt denn das Unglück denn gar kein Ende?“

„Was ist denn passiert?“ fragte das Mädchen erschrocken.

„Stellt euch vor, die Pferde gingen plötzlich durch. Die Kutsche, in dem euer Stiefvater saß stürzte um. Er und seine Begleiterin wurden herausgeschleudert und unter der Kutsche begraben.“

„Und?“ fragte Johanna nur.

Der Nachbar schlug beide Hände vor das Gesicht.

„Tot, beide tot.“

Und während der Mann jammernd davonlief wandte sich das Mädchen lächelnd zu dem Grab ihrer Mutter.

„Danke Mama.“