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Alptraumfahrt

Edgar fuhr durch die nächtliche Landschaft. Die Straße lag wie ein dunkles Band vor ihm. In wenigen hundert Metern machte sie eine scharfe Linkskurve. Er nahm die Bäume und Sträucher, an denen er vorbeifuhr, kaum war. Es war, als sei sein Gehirn aus Watte. Alles dumpf und unwirklich um ihn herum. Edgar war betrunken.

Plötzlich war grelles Licht vor ihm. Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos.
UND ER FUHR AUF DER LINKEN FAHRBAHN!
Er war nicht fähig zu reagieren. Krampfhaft umklammerten seine Hände das Lenkrad. Augen und Mund weit aufgerissen in furchtbarem Entsetzen. Die entgegen kommende Fahrerin riss das Lenkrad herum, um ihm auszuweichen. Einen Moment lang sah er im Scheinwerferlicht ihr bleiches, vor Todesangst erstarrtes Gesicht. Dann durchbrach ihr Auto die Leitplanken und sie donnerte den Abhang hinunter. Ein berstendes Krachen. Dann ein lauter Schrei.
Sein eigener Schrei, der ihn aufweckte.
Ruckartig setzte er sich in seinem Bett auf. Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich über seine schweißnasse Stirn. Ächzend stand er auf und schlurfte in die Küche. Er füllte ein Glas mit Wasser und trank es in gierigen Schlucken leer. Schwer ging sein Atem.
Edgar hatte furchtbare Gewissensbisse. Er war schuld an dem Tod einer jungen Frau, weil er betrunken Auto gefahren war und auf die linke Fahrbahn geriet. Sie wollte ihm noch ausweichen und war dabei den Abhang hinunter gestürzt.
Er war noch zurück zu der Unglückstelle gelaufen, doch er konnte nicht mehr helfen. Was hätte es genützt, wenn er sich der Polizei gestellt hatte? Davon wäre sie auch nicht mehr lebendig geworden. Also beging er panikartig Fahrerflucht.
Seitdem hatte er keine ruhige Minute gehabt und wurde ständig im Schlaf von diesem schrecklichen Alptraum gequält.
Edgar musste noch einmal raus, raus aus diesen vier Wänden. Er griff sich den Schlüsselbund und ging hinunter auf die Straße. Eigentlich hatte er ein Stück laufen wollen, aber wie automatisch lenkten seine Schritte hin zum Auto, obwohl er in seinem Zustand sicherlich alles andere als fahrtüchtig war. Dennoch fuhr er los.

Das Licht der Scheinwerfer fraß sich durch die Dunkelheit. Edgar kniff die Augen zusammen. Stand ein paar hundert Meter weiter nicht eine Gestalt am Straßenrand? Als er näher kam sah er, dass er sich nicht getäuscht hatte. Es wart eine Frau. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen, da sie eine Kapuze aufhatte. Sie winkte, wollte mitgenommen werden.
Edgar nahm normalerweise keine Anhalter mit, schon gar nicht in der Nacht. Jetzt aber trat sein Fuß wie von selbst auf die Bremse. Als wäre er eine Marionette, die jemand nach Belieben lenkte. Kurz nach der Frau blieb der Wagen stehn.
Langsamen Schrittes kam sie näher, öffnete die Tür und setzt sich wortlos auf den Beifahrersitz. Edgar starrte sie irritiert an. Er spürte ein unangenehmes Magendrücken. Noch immer konnte er ihr Gesicht nicht erkennen, da die Kapuze es nach wie vor verdeckte.
„Warum fahren sie nicht weiter?“ sagte sie tonlos.
Edgar zuckte zusammen und schluckte. Dann nickte er kurz und fuhr los. Die Situation war bedrückend und unheimlich. Er warf einen verstohlenen Blick auf seine Beifahrerin. Wie eine finstere Puppe saß sie da, bewegungslos, die Hände lagen auf den Oberschenkeln.
Edgar spürte, wie langsam Angst in ihm hochkroch. Erneut bildeten sich erste Schweißperlen auf seiner Stirn. Sein Mund war trocken und gerne hätte er jetzt einen Schluck Wasser gehabt.
„An der Kreuzung links“, sagte die Unheimliche.
Ein Schauer jagte über den Rücken des Mannes, denn wenn er ihrer Anweisung Folge leistete kam er auf die Straße, auf der das schreckliche Unglück geschehen war.
„NEIN“, hämmerte es in seinem Kopf. Nur nicht auf diese verdammte Straße. Aber er konnte nicht anders. Wie unter Zwang lenkte er den Wagen nach links.
Und die Angst verstärkte sich. Wild pochte sein Herz gegen die Rippen. Der Schweiß lief in langen Bahnen über sein Gesicht.
Und die Unglücksstelle kam näher.
Da sah Edgar im Augenwinkel, wie seine Beifahrerin die Hände hochhob und sich die Kapuze abstreifte. Ruckartig wande sie ihm ihr Gesicht zu.
Er schaute sie an und das Entsetzen umklammerte sein Herz mit eiskalten Krallen. Er schrie auf, denn das Gesicht, das ihm mit toten Augen entgegenblickte…
…WAR DAS GESICHT DER FRAU, DEREN TOD ER ZU VERANTWORTEN HATTE!!!
Edgar glaubte wahnsinnig zu werden.
Und die Unglücksstelle kam näher und näher.
Wieder schaute er nach rechts…der Beifahrersitz war leer!
Erlebte er dies in Wirklichkeit oder war es eine Wahnvorstellung? Er wusste es nicht mehr. Realität und Alptraum wuchsen zusammen.
Und dann stand sie vor ihm auf der Straße. Die Frau, die Tote, die soeben noch neben ihm auf dem Beifahrersitz saß. Mit ihrem bleichen Gesicht starrte sie ihn an. Und er raste auf sie zu!
Einem Reflex zufolge riss er das Steuer herum, jagte über die noch nicht reparierte Leiplanke den Abhang hinunter. Es krachte, Blech knirschte und barst. Die Welt um ihn herum wurde zu einem wirren Wirbel. Dann der Aufprall!
Edgar spürte noch einen wilden Schmerz durch seinen Körper rasen, dann wurde es dunkel um ihn. Er wurde hineingeschleudert in den unendlichen schwarzen Tunnel des Todes!

Ein Liebespärchen hatte den schrecklichen Unfall beobachtet. Unter anderem hieß es in einem Bericht der Zeitung:

DER FAHRER ZOG DAS FAHRZEUG OHNE ERKENNBAREN GRUND NACH LINKS

WEDER EIN ENTGEGENKOMMENDES FAHRZEUG NOCH EINE SICH AUF DER FAHRBAHN BEFINDETE PERSON KONNTEN DIESES AUSWEICHMANÖVER ERKLÄREN

Paul Hartmann

ENDE