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ER……..

Eine Geschichte von Paul Hartmann

Wütend fauchte der stürmische Wind durch die Bäume. Holz knarrte, als würden Knochen aneinander reiben. Äste wogen hin und her, als wollten sie das drohende Unheil verjagen. Wie ein Wächter über die schaurige Nacht stand der fahlgelbe Vollmond am schwarzen Himmel. Eine furchterregende Aura näherte sich dem Haus.

Denn ER kam.

Als ein unsichtbarer Schatten schlich ER näher, seine Aufgabe zu erfüllen. ER, der aus den Schluchten der Finsternis immer wieder hervorstieg.

ER war ungeduldig. Zu langsam lief sie ab, die Uhr. Aber sie lief und lief und lief…bald würde sie stehenbleiben. Der Sand des Lebens rieselte unaufhörlich. Nur noch wenige Körnchen waren übrig.

ER starrte in das Innere des Hauses zu dem Bett, in dem der Sterbende lag. ER wollte zu ihm, aber noch hielt der Wall des Lebens. Noch konnte ER nicht eindringen.

Wieder huschte ER ums Haus. Hin und her, voller Ungeduld. Gleich konnte ER hinein. Gleich.

Dann war es soweit. Die Uhr lief ab. ER drang durch die Mauern, die Ihm keinen Widerstand entgegen zu setzen vermochten.

Die einzigen Lichtquellen in dem Raum waren vier Kerzen, die um das Bett verteilt waren. Sie erhellten das Zimmer nur notdürftig. Ihr flackernder Schein warf unruhige Schatten an die Wände Aus dem Mund des Alten kam stoßweise röchelnder Atem. Die Haut spannte sich wie rissiges Pergament über den Schädel und die Augäpfel lagen wie trübe Kugeln in den Höhlen. Vom Rest des Körpers waren nur die gichtkrummen, abgezehrten Hände zu sehen, die aus den Ärmeln des weißen Nachthemdes hervor schauten. Sie lagen zitternd auf der ebenfalls weißen Zudecke. Auf dem Nachttisch stand ein halb volles Glas Wasser und eine volle Glaskaraffe.

Sohn und Tochter des Alten standen am Fußende des Bettes. Beklommen schauten sie ihren Vater an. Und zu der Beklemmung gesellte sich noch etwas anderes.

Eiskalter Schauer, der über ihre Rücken strich. Sie spürten eine Gänsehaut. Angst kroch in ihnen hoch. Schwer atmend blickten sie sich um. Eine unheimliche Aura breitete sich aus. Sie hatten das Gefühl, als wäre noch jemand im Zimmer. Jemand, den sie nicht sahen, aber umso mehr fühlten. Und sie hatten Recht.

ER war da!

Auch der Sterbende spürte das Unheil. Plötzlich riss er die Augen auf. Die Anwesenden erschraken und spürten, wie sich ihre Magenwände zusammen zogen.  Der Atem des Alten ging noch schneller. Er richtete seinen Oberkörper auf indem er sich auf seine Ellbogen stütze. Niemand hätte ihm diese Kraft noch zugetraut. Er brachte es sogar noch fertig seine Rechte zu heben und den abgezehrten Finger aus zu strecken, der bebend zwischen seinen Kindern hindurch zeigte.

„Da,“…krächzte er,  „seht…ihr…ihn nicht…?“

Die beiden verzerrten entsetzt ihre Gesichter. Wild trommelten ihre Herzen gegen die Rippen. Das Grauen hatte sie fest im Griff.

Die Stimme des Alten wurde schrill: „Er ist….da, will…mich holen. Weg, weg…jagt ihn weg“

Er machte mit seinem Arm eine fahrige, abwehrende Bewegung und fegte dabei die volle Glaskaraffe vom Nachttisch. Klirrend zerbarst sie am Boden und das Wasser verteilte sich.

„Er…kommt….näher….näher…..geh weg…..weg….!“ Speichel sprühte vor seinen Lippen. Noch einmal riss er weit den Mund auf:

„Aaaaaahhhhhh!“

Sein Oberkörper bog sich durch, der Kopf sackte nach hinten. Die Augäpfel quollen aus ihren Höhlen. Weit stand sein Mund offen. Ein letztes Keuchen, ein Röcheln, dann fiel der Körper ins Kissen zurück. Tote Augen starrten an die Decke. Es war vorbei.

Es war totenstill im Raum. Nur der schwere Atem der beiden war zu hören. Sein Sohn flüsterte heiser: „Als hätte er den Sensenmann persönlich gesehen. Furchtbar.“

„DAAAA!!!“ schrie plötzlich seine Schwester voller Entsetzen und deutete mit dem Zeigefinger auf den Boden zu der Wasserpfütze. Auch ihrem Bruder stockte der Atem.

Nur zu deutlich waren die nassen, skelettierten Fußabdrücke zu sehen, die sich zur Wand hin entfernten und verschwanden.

ER verabschiedete sich!